Frauke Berndt Anamnesis

Annotation

Ich erinnere mich: Dem mit dieser knappen Formel bezeichneten Paradigma des Erzhlens kommt fr die Literatur des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts zentrale Bedeutung zu. Doch werden die einschlgigen Texte seit jeher, wenn auch unter hchst verschiedenen theoretischen Vorgaben, auf die hermeneutische Frage nach der poetischen Konstitution und Konstruktion des Subjekts hin untersucht. Die tieferen Fundamente des narrativen Arrangements Anamnesis treten aber erst dann zutage, wenn die Doppelung von erzhltem und erzhlendem Ich als Funktion der literarischen Erinnerungsarbeit begriffen wird. Diese Arbeit setzt - diesseits von Wahrnehmungen oder platonischen Ideen, authentischen Erfahrungen oder Unbewutem - ein Bildarchiv voraus, das die Pathosformeln aus den groen mythologischen und christologischen Initiationserzhlungen, aus Christus-, Marien-, Heiligen- und Venusikonographie enthlt. Im Rckgriff auf topisch strukturierte Modelle kultureller Wissensorganisation und -abbildung dienen die vielen kleinen Szenen und Episoden, aus denen die Erzhler in Moritz' Anton Reiser, Kellers Grnem Heinrich und Raabes Akten des Vogelsangs die Lebensgeschichten der Helden zusammenfgen, dem Entwurf weit angelegter Gedenkrume. So erweist sich die rhetorische Tradition der Memoria in den Texten geradezu als bermchtig, wird sie doch zugleich die Grundlage einer jeweils eigenstndigen sthetischen Figuration. Aus der Analyse des Widerspiels von Hermeneutik und Rhetorik, von individueller Erinnerung und kollektivem Gedchtnis folgt nicht zuletzt, da die Prmissen, unter denen das Konzept einer modernen Erinnerung bislang verhandelt wurde, einer Revision bedrfen.